Leire studiert im letzten Semester Literatur und
Geschichte an der Universität von Salamanca. In wenigen Wochen ist
ihre Abschlussprüfung und ihr Professor Dr. Catalyud hat sich
grosszügiger Weise bereiterklärt an diesem Nachmittag bei einigen
Recherchen zu helfen. Er wohnt in der alten Posada de las Almas, wo
er ein Zimmer gemietet hat. Das ist praktisch für ihn, da er in
einer viertel Stunde die Universität zu Fuss erreichen kann.
Leire‘s Thema
sind „Engel und Engelgestalten“ in der Literatur des frühen
Spanischen Mittelalter, eigentlich eher ein Thema für Liebhaber, das
wohl kaum Beachtung bei zukünftigen akademischen Lesern finden wird.
Dafür entsprechen die Resultate zu wenig den gegenwärtigen
Vorurteilen zum Mittelalter und seiner Gedankenwelt. Doch Leire ist
gefangen von dem Thema.
Es ist schon
gegen neun Uhr abends, als Leire beschliesst aufzubrechen. Dr.
Catalyud bietet ihr an, sie zu begleiten. Zwar lebt sie während des
Semesters in der Nähe der Universität, bei ihrer Grossmutter und
ist in einer halben Stunde zu Hause, aber draussen ist es schon
dunkel in die Strassen Salamancas können Nachts ganz schön
unheimlich sein, die Fresken, die seltamen Gestalten, die von den
Dachrinnen hinunterblicken.
Nach kurzem
zögern, willigt Leire ein. Sie packt ihre Bücher zusammen, Dr.
Catalyud löscht die grosse Lampe und lässt nur eine kleine Brenne,
für den Fall. Er glaubt, dass es Räuber davon abhält einzubrechen.
Draussen ist es
Stock dunkel. Ein paar Strassenlaternen leuchten den Weg. Der Wind
fegt Papierfetzen vor sich her.
„Komm, gib mir
Deine Bücher“, sagt Dr. Catalyud.
Leire ist froh,
denn sie sind wirklich schwer.
Schweigsam gehen
sie die Strasse hinunter. Da hört Leire etwas hinter sich. Sie dreht
sich um, doch da ist niemand.
Plötzlich spürt
sie etwas an ihrem Rücken. Dr. Catalyud geht nah neben ihr her. Dann
streicht er ihr mit der Hand über die Schulter.
„War er es? Er
wird doch nicht versucht haben sie zu betatschen?“
Leire ist
verwirrt. Es kommt ihr unsinnig vor. Nie hat ihr Professor
irgendetwas versucht oder eine Situation ausgenutzt. Sie hat sich
wohl geirrt.
Doch dann sprürt
es genau, den Griff um ihren Po. Sie erschrickt und dreht sich heftig
dem Professor zu. Doch der geht ganz ruhig neben ihr her. Im Arm, auf
ihrer Seit hält er die Bücher. Er kann unmöglich mit dem anderen
Arm zugegriffen haben ohne seine Position zu verändern.
Etwas später,
schon wieder. Ein zischen, so als ob jemand hinter ihrem Rücken
vorbeirannte.
Leire wird nervös
und der Professor schaut zu ihr herüber. „Alles in Ordnung, Sie
atmen so stark. Die jungen Leute heute sind wohl nicht mehr so ans zu
Fuss gehen gewöhnt. Es tut mir leid, aber ich habe kein Auto.“
Leire lächelt
zurück: „Nein, nein, ist schon gut. Ich habe nur etwas gehört.“
Dann sieht sie
einen schwarzen Schatten. Sie erschrickt. Aber dann ist er auch schon
weg. Noch einer und dann ein ganz helles Licht. Leire möchte schon
zum Licht laufen, doch Dr. Catalyud hält sie zurück:
„Nicht!“
„Was ist das?“
„Das sind
Engel.“
Leire lacht: „Ja,
sicher, Engel.“
Dr. Catalyud
schaut sie ernsthaft an und nickt schweigsam.
„Wie meinen Sie
das, Engel?“
„Hm, kommen Sie
Leire. Lass Sie uns weiter gehen.“
Wieder hört
Leire ein zischen. Doch dann sieht sie auf der anderen Strassenseite,
die Frau, die die Strasse kehrt. Sie lächelt ihr zu und geht weiter.
Doch nun spürt
einen eisigen Atem. Als sie sich umdreht, sieht sie nichts, nur das
helle Licht.
„Nicht.“
Wiederholt Dr. Catalyut.
Ein Katzensprung
der Heimweg. Weshalb kommt er ihr heute nur so weit vor. Gerade als
sie die „Cuesta del Carmen“ überqueren wollen, spürt sie einen
Stoss von hinten und ein Licht das aufflackert, als ob es Blitzt. Sie
schreit erschrocken auf. Nun ist auch Dr. Catalyud erschrocken.
„Komen Sie!“ er nimmt sie bei der Hand und zieht in die „Cuesta
del Carmen hinein“.
„Hier müssen
wir doch gar nicht lang! Diese Strasse ist ganz dunkel“ was der
Professor nur vor hat? Leire wird es unheimlich. Vielleicht war ihr
erster Verdacht gar nicht so falsch. Dr. Catalyud schaut in ihr
verschlossenes Gesicht. Dann lacht er kläglich: „Was denken Sie
denn? Kommen sie, das ist schon gut so. Machen Sie schnell. Gleich da
vorne an der Ecke gehen wir links die Strasse hinunter. Direkt nach
der „Casa de las Muertes“ kommt das „Pata Negra“. Das ist ein
gutes Restaurant. Da kann ich Sie zum Abendessen einladen. Aber
machen Sie schnell. Es ist nicht sicher hier.“
Nun gehen beide
im Laufschritt. Dr. Catalyud hält sie immer noch an der Hand. Wie
unheimlich an einem Haus mit dem Namen „Casa de las Muertes“,
Haus der Tode, vorbeizugehen. Doch dann sieht sie auch schon die
erleuchteten Fenster des „Pata Negra“.
Drinnen wird
ihnen ein gemütlicher Tisch in der hintere Ecke des Restaurants
angeboten.
Leire schliesst
die Augen und atmet tief durch.
„Ich bitte Sie
um Entschuldigung. Ich glaube, ich schulde ihnen eine Erklärung,
aber lassen Sie uns doch erst bestellen.“…
Und dann erzählt
ihr der Professor eine Geschichte.
Hier, lange bevor
Salamanca eine berühmte Universitätsstadt wurde, war schon eine
ausgedehnte Dehesa, wie in Spanien die Hutewälder genannt werden.
Doch früher gab es hier noch viel mehr Bäume. In den Bäumen lebten
Engel. Ursprünglich waren sie alle weiss, nicht wie Gespenster im
Fernsehen, mit Leintuch umwickelt. Eher wie ein helles Licht ein
Blitz.
Die Menschen, die
hier lebten, liebten die Engel, denn sie strahteln ihnen den Weg in
der Nacht und schützten das Vieh vor wilden Tieren und Räubern.
Auch waren sie schön anzusehen.
Eines Tages,
machte sich einer der Dorfbewohner auf, um sein Vieh zu kontrolieren.
Als er seinen Besten Stier in einem halb ausgetrockneten Flussbett,
halb im Schlamm steckend sah. Er versuchte dem Tier zu helfen, doch
der Stier wehrte sich nur noch mehr und schlug den Mann, so dass er
ohnmächtig wurde. Da kam einer der Engel um ihm zu helfen. Die
anderen Engel standen darum herum und schienen es nicht gut zu
finden. Sie wollten den Engel davon abhalten.
Doch der hörte
nicht auf sie. Er stand nun selbst bis zur Hüfte im Schmutzwasser
und mit seiner übermenschlichen Kraft half er dem Stier aus dem
Wasser. Das Tier war überglücklich und sprang munter und gesund
davon. Doch der Engel war von Kopf bis Fuss mit Schmutz bedeckt, so
dass er eher wie ein Scatten, als wie ein Licht aussah.
Als der Mann
wieder zu sich kam, sah er gerade noch, wie einige der Lichtgestalten
davonschwebten und ihm zuwinkenten. Natürlich erzählte er die
Geschichte überall im Dorf, woraufhin die Menschen anfingen die
Engel richtiggehend zu verehren. Das gefiel den Engeln sehr und
motivierte den einen oder anderen es dem ersten gleichzutun,
woraufhin sie für immer Schmutzig wurden und wie dunkle, schwarze
Schatten durch die Welt gingen und wirkten im Stillen. Von da an gab
es dunkle und helle Engel.
Die Menschen
bemerkten diese Veränderung und fingen an sich zu beunruhigen. Was
es wohl mit den dunkeln Engeln auf sich hatte? Keiner hatte bisher
die Veränderung mitangesehen. Die hellen Engel hatten Angst, dass
wenn die Menschen, die Wahrheit erfahren würden, dass sie dann von
ihnen allen erwarten würden es den dunkeln Engel gleichzutun. Und
wer würde dann noch schön sein und strahlen. Daher verbreiteten sie
das Gerücht, dass die Dunkel Engel das Unheil bringen, das die
hellen Engel dann wiederum aus der Welt schaffen würden. Da fingen
die Menschen an die Dunkeln Engel zu hassen und zu verfolgen. Da sie
wussten, dass die Engel in den Bäumen leben, schnitten sie die
meisten der Bäume ab, damit immer viel Platz zwischen ihnen war und
man gut die Dunkeln Engel erkennen konnte. So machten sich die dunkel
Engel langsam auf, die Gegend zu verlassen und versteckten sich in
den dunkeln Wäldern des Nordens.
Von da an mussten
Menschen anfangen sich selber zu helfen, sich selbst überlassen.
„Das was Du
dort draussen gesehen hast, waren die letzten dunkeln Engel, die
nachts die Menschen noch vor dem Unheil bewahren. Doch die hellen
Engel versuchen sie davor abzuhalten.“
„Weshalb haben
Sie mir das nicht früher gesagt? Das ist doch interessant für meine
Arbeit?“ „Gute Frau, sie wollten doch eine wissenschaftliche
Arbeit schreiben. Ich habe Ihnen nur eine Geschichte erzählt.“